Vorläufige Betrachtungen zur Berlin-Wahl
Wer es mit einer Auswertung der Berlin-Wahl ernst meint, sollte Zeit und Mühe investieren. Denn auch die vierte Landtagswahl in diesem Jahr wirft viele wichtige Fragen und Hinweise auf, gerade für uns Grüne. Die enorme Abwanderung zu den Linken und auch absolute Stimmenverluste in Zeiten in denen die Rechtspopulist*innen aufsteigen, muss uns Sorge bereiten. Aber auch eine vorläufige Betrachtung und erste Einschätzung macht Sinn, dafür liefern allein die nackten Zahlen genug Evidenz.
Der grüne Landesverband hat am Sonntag zwei seiner drei Wahlziele erreicht. Die regierende Große Koalition hat mit jeweils deutlichen Verlusten (SPD –6,7 Prozentpunkte, CDU –5,7 Prozentpunkte der Zweitstimmen) ihre Mehrheit krachend verloren. Und das Ziel einer grünen Regierungsbeteiligung ist zum Greifen nahe. Neben Rot-Rot-Grün ist nur noch Kenia möglich (was der Berliner Landesverband vor wie nach der Wahl ausgeschlossen hat), sowie eine „Deutschland-Koalition" aus SPD, CDU und FDP. Letztere hat gerade mal eine Stimme über dem Durst und dürfte damit angesichts des Zustands der beiden Noch-Regierungsparteien faktisch ausgeschlossen sein. Grüne im Berliner Senat: dergleichen hat es in den letzten 37 Jahren nur zweimal gegeben und das denkbar kurz (von März 1989 bis November 1990 und Juni 2001 bis Januar 2002). Ein großer Erfolg ist zum Greifen nahe.
Absolute Stimmenverluste in politisierteren Zeiten
Verfehlt wurde das dritte grüne Wahlziel: das historisch beste Ergebnis von 2011 (17,6 Prozentpunkte) zu halten. Nach schwankenden Umfragewerten im Vorfeld (15-18 Prozentpunkte) und ersten positiven Prognosen am Wahlabend fehlten am Ende 2,4 Prozentpunkte. Noch bitterer dabei ist, dass in polarisierteren und politisierteren Zeiten die Grünen sogar an absoluten Stimmen verlieren (minus 8.820 Stimmen). Obwohl die Auseinandersetzungen so emotional und mobilisierend sind wie selten (am Tag vor der Wahl fanden in Berlin gleich drei größere Demos statt, für die Geflüchteten, gegen die Rechtspopulist*innen beim Marsch für das Leben und gegen TTIP und CETA), verlieren wir auch in absoluten Zahlen. Und die Berliner Grünen geben ihren 2011 erstmals eroberten dritten Platz im Fraktionsranking wieder an die Linke (15,6 und +3,9 Prozentpunkte, ein Plus von 84.690 Stimmen) ab.
Die Fragen, die sich aus diesem Ergebnis ableiten, liegen auf der Hand: warum konnten die Berliner Grünen nicht von der großen Unzufriedenheit mit Rot-Schwarz – immerhin der unbeliebtesten Landesregierung im gesamten Bundesgebiet – profitieren? Warum konnten sie keine Stimmen von Nichtwähler*innen dazugewinnen? Und warum haben sie die mit weitem Abstand meisten Stimmen (21.000) an die Linkspartei verloren? Gerade letzteres dürfen wir nicht länger ausblenden, verstetigt sich hier doch ein Trend, den wir bereits von anderen Wahlen der jüngsten Zeit kennen. Ob die Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen oder die Kommunalwahlergebnisse in Frankfurt und anderen westdeutschen Städten: die Linkspartei wildert immer erfolgreicher in grün-urbanen Milieus und Hochburgen. Die größten Zuwächse verzeichnete sie auch in Berlin in der westlichen Innenstadt (in manchen Wahlkreisen mit Zuwächsen um die 15 Prozent und sogar im „bürgerlichen" Charlottenburg-Wilmersdorf mit +5,7 Prozentpunkte bei den Zweitstimmen), während sie in ihren östlichen Hochburgen wie Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg an die AfD abgeben musste.
Gerechtigkeit macht den Unterschied
Sicherlich: die Stärke der Berliner Linkspartei kommt nicht von ungefähr. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2001 erreichte die Partei noch 22,6 Prozentpunkte. Ihre 11,7 Prozentpunkte vor fünf Jahren waren die Quittung der Wähler*innen für zehn Jahre rot-roter Spar- und Privatisierungspolitik. Umso erstaunlicher ist das Geheimnis des aktuellen Erfolgs der Linken. Zentral dabei das Thema Gerechtigkeit. Schon lange vor dem eigentlichen Wahlkampf deutete sich an, welches Thema für die Wahlentscheidung der Berliner*innen die größte Relevanz (50 Prozentpunkte Berlin-West, 53 Prozentpunkte Berlin-Ost) haben würde: „Soziale Gerechtigkeit" umschreibt in diesem Fall ein ganzes Bündel von politischen Themen und Problemlagen, angefangen mit den explodierenden Mietkosten, über Kinderarmut und Altersarmut, ungleiche Job- und Bildungschancen, bis zur sozialen Spaltung der wachsenden Stadt insgesamt. Hier konnte die Linkspartei punkten, gerade bei Grünen-Wähler*innen. Auch bei ihnen rangiert „soziale Gerechtigkeit" unter den wahlentscheidenden Themen auf Platz 1 (54 Prozentpunkte), noch vor Umwelt und Energie oder Bildung (48 bzw. 29 Prozentpunkte). Die Sorge vor dem sozialen Abstieg, prekärer Beschäftigung, sinkenden Renten und steigenden Mieten – sie ist in großen Teilen der gesellschaftlichen Mitte inklusive ihrer libertär-progressiven Milieus angekommen. Und sie gilt nicht nur der eigenen wirtschaftlichen Existenz und Zukunft, sondern auch der Angst vor einer Spaltung unserer Gesellschaft insgesamt, verbunden mit der (richtigen) Beobachtung, dass die Verhältnisse in diesem Land in den letzten Jahren immer ungerechter geworden sind. Im Gegensatz zu manchen Grünen hat die Linkspartei verstanden, dass Gerechtigkeit den Unterschied macht – in der realen Entwicklung der politischen Stimmung und, vor allem in Verbindung mit links-liberalen Werten, als wahltaktischer Zugang zu den Stimmen von Grün-Wähler*innen. Wer das innerhalb unserer Partei nicht realisiert, macht Politik an den Menschen und den Interessen der eigenen Partei vorbei.
Im Schlafwagen verschlafen
Ein zweiter Aspekt dürfte der Linkspartei in Berlin in die Hände gespielt haben: Trotz zehn Jahren Rot-Rot und damit einer Mitverantwortung für die aktuell größten Probleme der Stadt – eine kaputt gesparte Infrastruktur und Verwaltung, Mietendruck und Wohnungsnot – konnte sie bei den Wähler*innen mit einer Veränderungsbotschaft punkten. Die Linke stand für den Wandel, den Aufbruch und für eine neue Regierung. Den Grünen ist es dagegen nicht gelungen deutlich zu machen, wofür sie konkret stehen. Und das obwohl sie bei 57 Prozent der Berliner*innen als die Partei gilt, die „gute Ideen für die Entwicklung der Stadt" hat, noch vor SPD und Linkspartei (50 bzw. 45 Prozentpunkte). Wir haben mit dem Wohlfühlwahlkampf zwar keine Wähler*innen verschreckt, aber eben auch keine begeistert, geschweige denn ihnen den Grünen Mehrwert näher gebracht. Das mag auch daran liegen, dass wir in den letzten fünf Jahren als stärkste Oppositionspartei im Parlament streckenweise wie eine Regierungspartei im Wartestand erschienen. In der Opposition kommt es eben nicht vor allem darauf an Regierungsfähigkeit zu beweisen, sondern Alternativen zur Regierung aufzuzeigen und zuzuspitzen. Nun kommen wir womöglich ohne große Zuspitzung in Regierungsverantwortung. Doch es wird einiges an Kraft kosten als kleinste Partei der Regierung Veränderungen zu schaffen und Profil zu gewinnen.
Eine umfassende Aufarbeitung der Berlin-Wahl steht noch aus. Sie wäre wünschenswert, nicht zuletzt im Hinblick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Wer glaubt, die Grünen würden auch 2017 im Schlafwagen an die Macht kommen, dürfte bitter enttäuscht werden. Denn eine Situation war in Berlin besonders: An Müller ging kein Weg als regierender Bürgermeister vorbei. Die Grünen wurden eben nicht zwischen zwei große Parteien, die um den Chef*innenposten kämpften vergessen, sondern waren in allen Artikeln über den zukünftigen Senat präsent.
Wer sich weiterhin nicht die Mühe macht, das Gerechtigkeitsthema greifbar zu besetzen, wird in Zukunft noch weniger Aufmerksamkeit generieren und überlässt viele Grüne Wähler*innen so der Linkspartei. Debatten, wie sie womöglich bei der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz bevorstehen sind da keine große Hilfe. Erbschaftssteuer oder Vermögenssteuer – warum nicht beides? Statt strömungspolitischer Symbolpolitik braucht es endlich eine originär Grüne Gerechtigkeitserzählung, in der wir das Soziale mit dem Ökologischen verbinden und gleichzeitig Antworten auf die dringendlichsten Probleme dieser Gesellschaft formulieren: die Kinder- und Altersarmut, die Prekarisierung immer größerer Teile des Arbeitsmarkts oder den Wohnungs- und Pflegenotstand.
Das wären zumindest die richtigen Lehren aus der Berlin-Wahl.
22. September 2016 um 13:49
Nun ja. Den Schlafwagen kann man teilen, aber er hat auch einen Vorteil: Es war vor Ort immens wichtig, eine geschlossene Partei präsentieren zu können, denn nur so kann die Themenebene in den Mittelpunkt gestellt werden, ohne dass Fragen nach internen Parteistreitigkeiten alles überdecken. Hier gilt für mich der einfache Satz: Die wollen mich überzeugen? Die können sich ja nicht mal selbst überzeugen. Themenschwerpunkte konnten auf der Grundlage des Programmes problemlos vor Ort gesetzt werden, wie etwa die Vermögenssteuer. Das ist etwa einer/m Direktkandidat*in ohne weiteres in einem Bürgeranschreiben möglich. Eben genau so wie es für spezielle Bauprojekte vor Ort möglich ist. Und ein Bürgeranschreiben kann man an Plakate heften, in die Kandidatenflyer einlegen oder im Tür-zu-Tür Wahlkampf verwenden. Der vor Ort Wahlkampf war deshalb diesmal besonderes wichtig, da unser Spitzenteam zwar bei uns, aber in der Stadt eben nicht so bekannt ist. Wir sollten uns vor einer zu starken in-the-box-Denke in Acht nehmen. Insbesondere in meinem Wahlkreis (Halensee, Grunewald) war es sehr wichtig, dass die Umfragewerte lange Zeit uns und die CDU gleichauf sahen. Ich habe deshalb in einem aussichtslosen Wahlkreis in Charlottenburg-Wilmersdorf Erststimmenwahlkampf geführt. Ich glaube nicht ganz erfolglos: Ich bin mit den Themen Vermögenssteuer, Wohnungsspekulation in den Erststimmen vor dem Kandidaten der FDP gelandet, was uns leider bei den Zweitstimmen nicht gelungen ist. Nun gut – insgesamt sind es ja nur vorläufige Feststellungen, aber vielleicht darf ich Euch mitgeben: Wir sollten es uns nicht zu einfach machen. Mehr später. LG an Euch
23. September 2016 um 13:00
Gute und konstruktive Vorschläge! Oliver, wir sehen uns zur BAG WI&Fi 7.-9.10.16? Dann möchte ich gerne mit dir weiter analysieren und Schlussfolgerungen ziehen für unsere GRÜNE Zukunft. 😉
26. September 2016 um 14:03
Liebe Claudia,
sehr gerne. Bis zur BAG,
LG
Oliver
22. September 2016 um 18:03
"Wahlanalyse" meint Analyse und nicht Interpretation
Es ist ärgerlich, dass wir mit 0,4% hinter die LINKE gerutscht sind, aber das hat wenig mit der Frage der "Sozialen Gerechtigkeit" zu tun. Die LINKE hat dazugewonnen, weil die meisten PiratenwählerInnen eher links ticken, wir haben immerhin11.000 Stimmen von dort auch bekommen und weil sie für potentielle SPD-WählerInnen die Sicherheit boten, dass die CDU nicht wieder ins Spiel kommt. Diese WählerInnen haben zurecht der SPD nicht mehr getraut. Also bitte keine Überhöhung des Erfolgs der LINKEn. Diesen Prozess kann man auch mit den Erststimmenanteilen belegen, da liegen wir vor der LINKEn!
Und zu unserem Ergebnis: Ja, wir wollten die Zahl der Stimmen von 2011 halten (257.063), da fehlen 9.000 Stimmen. Aber bitte auch nicht vergessen: 2011 ist das Jahr von Fukushima!
Wichtiger als der Vergleich der Stimmenzahl mit dem Jahr 2011 ist der mit dem Jahr 2006.
Da hatten wir 180.865 Zweitstimmen und 2016 haben wir 248.243 Zweitstimmen, d.h. fast 70.000 Stimmen mehr. Also bitte, da spielt doch viel mehr eine Rolle als nur "Soziale Gerechtigkeit"
Den Wahlkampf selber hätte ich mir auch etwas kantiger, etwas politischer gewünscht, vor allen in unserer Kernkompetenz. Es war m.E. kein "grüner" Wahlkampf.
Die zwei wichtigsten Zuschreibungen unserer WählerInnen sind:
"Finde gut, dass sie als einzige Partei positiv gegenüber Flüchtlingen eingestellt sind."
"Haben früher als andere wichtige Probleme erkannt." Zustimmung bei beiden Ansichten = 87% !! Da liegen unsere Stärken und von den erkannten Problemen und ihren Lösungen war zuwenig im Wahlkamf zu spüren.
Dirk Jordan