Die Europäische Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung und Entwicklung maßgebend waren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte, die Achtung der Menschenwürde und des Völkerrechts.
Von „Flüchtlingsabwehr“ ist in diesem wunderschönen Auszug aus Artikel 21 der europäischen Verträge nichts zu lesen. Dennoch scheinen die EU-Mitgliedstaaten in ihren Außenbeziehungen derzeit vor allem auf eines hinzuarbeiten: möglichst viele Schutzsuchende möglichst frühzeitig auf ihrer Flucht nach Europa abzufangen oder zumindest wieder abzuschieben.
Kein Projekt verkörpert diesen politischen Irrweg deutlicher als ein Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom 28. Juni dieses Jahres. Darin kündigen sie an, auf Grundlage des EU-Türkei-Paktes dutzende weiterer Abkommen – sogenannte Compacts – abschließen zu wollen. Die Verträge mit Jordanien und dem Libanon sind so gut wie unterzeichnet. Mit Niger, Nigeria, Mali, Äthiopien und dem Senegal wird verhandelt. Und schon werden Forderungen laut, den Kreis noch weiter zu ziehen: von Pakistan über Ägypten bis nach Libyen.
Nun höre ich immer wieder, auch parteiintern, ich malte in dieser Sache allzu schwarz. Was spräche schon dagegen, auch mit schwierigen Gesprächspartnern über eine gemeinsame Herangehensweise zu verhandeln? Was sei schon einzuwenden gegen mehr Entwicklungszusammenarbeit im Sudan, mehr logistische Unterstützung an libanesische Flüchtlingscamps, mehr Investitionen im Senegal?
Nichts, und das sagt auch niemand. In der vorliegenden Form aber erinnert die europäische Vorgehensweise dann doch an jenen unwürdigen Ablasshandel, dem wir nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi eigentlich abgeschworen hatten. Das beweist spätestens die Ankündigung der Mitgliedstaaten, in Zukunft alle zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen zu wollen, um die nötigen Anreize zu schaffen. Konkret: Wer beim Ausbau der Festung Europa mitwirkt, soll mit Handelsbegünstigungen belohnt werden; wer sich hingegen sträubt, könnte fortan weniger Unterstützung selbst in Bereichen wie Bildung oder Umweltschutz erhalten.
Natürlich gehören auch Abschiebungen zur juristischen Realität einer Einwanderungsgesellschaft dazu. Völkerrechtlich ist sogar jeder Staat verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger zurückzunehmen, wenn ihr Ersuchen um Schutz andernorts abgewiesen wurde. Den Mitgliedstaaten aber geht es um mehr: um die Rückführung von Drittstaatenangehörigen in Transitländer. So soll nicht nur die tunesische Migrantin nach abgelehntem Asylantrag zurück nach Tunesien. Auf Grundlage des Flüchtlingsabkommens mit Ankara kann längst auch die syrische Familie mit unbestreitbarem Anrecht auf Asyl zurück in die Türkei geschickt werden, weil dieses „sichere Drittland“ für sie ja vermeintlich sorgen könne. Mit Jordanien und dem Libanon ist laut Compact-Entwürfen ähnliches geplant.
Ratspräsident Tusk fasste die Agenda der EU-Mitgliedstaaten jüngst so zusammen: „Ziel ist es, die illegale Migration nach Italien und in alle anderen EU-Mitgliedstaaten zu verhindern, und eine effektive Rückführung irregulärer Migranten zu ermöglichen.“ Wenn zugleich aber auch weiterhin fast jede Form der regulären Einreise bewusst verhindert wird, was bedeutet das dann anderes als: Grenze dicht, nächstes Thema?
Ich würde gern ein bunteres Bild der EU-Flüchtlingspolitik zeichnen. Wenn aber von den Regierungen – übrigens ohne nennenswerte Einbindung des Europäischen Parlaments – bestenfalls Politik in Graustufen betrieben wird, sehe ich keinen Grund, meine Analyse künstlich einzufärben.
Als überzeugte Europäerin ist es mir zugleich ein Anliegen, immer wieder zu betonen: Es ist nicht die Europäische Union als solche, die hier eine fragwürdige Politik vorantreibt, sondern vor allem die Regierungen in den Nationalstaaten. Wir sollten deshalb nicht müde werden, auch weiterhin – in Brüssel und Berlin, Antrag für Antrag – ein konkretes und selbstverständlich europäisches Gegenprojekt zu entwickeln: aus gemeinsamer Seenotrettung, sicheren Zugangswegen und einer solidarischen Umverteilung innerhalb Europas, notfalls auch im kleineren Staatenbund.
Vor allem aber sollten wir stets die Situation der Geflüchteten ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Längst ist die Balkanroute doch dicht, die griechisch-türkische Grenze de facto geschlossen, die Mittelmeerroute immer unpassierbarer. Immer mehr Schutzsuchende stecken seither unter besorgniserregenden Umständen in Staaten fest, in denen ihre Menschenrechte tagtäglich bedroht sind. Zwischen der Türkei und Syrien entsteht eine Mauer; die Regierung hat sogar den Bau von Selbstschussanlagen angekündigt. Und auch die Grenze zwischen Syrien und Jordanien ist abgeriegelt, zehntausende Menschen sind von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Angesichts einer öffentlichen Debatte, die häufig nur noch zwischen Bedrohungsszenarien und Abschottungsfantasien oszilliert, halte ich es deshalb für nötiger denn je, konsequent den Blickwinkel der Schutzsuchenden einzunehmen – und ihre Menschenrechte zum Maßstab all unserer politischen Überlegungen zu machen.
Ja, das Erstarken der Rechtspopulisten und die wachsende Europamüdigkeit stellen uns vor große Herausforderungen. Die EU braucht in dem Zusammenhang vor allem eines: den Beweis der Handlungsfähigkeit. Den erbringen wir aber nicht, indem wir unsere drängendsten Aufgaben in Drittländer auslagern, oder einen regelrechten cordon sanitaire rund um Europa errichten. Vielmehr müssen wir die Prinzipien, die einst den Unterbau eines erfolgreichen europäischen Einigungswerks darstellten, erneut mit politischem Leben füllen. Und dazu gehört es nun mal auch, falsche Politik unmissverständlich als das zu bezeichnen, was sie ist: falsch. Auf der anstehenden Bundesdelegiertenkonferenz in Münster haben wir also die Wahl. Wir können die Probleme kleinreden und unsere Kanten abrunden, für wen oder was auch immer. Oder wir arbeiten daran, grüne Triebfeder eines menschenrechtsbasierten Umdenkens in der europäischen Flüchtlingspolitik zu sein – indem wir eindeutig Position beziehen, klare Kante zeigen und den Titel des Europa-Antrags ernst nehmen: Ja zu Europa, Mut zur Veränderung!