Grün.Links.Denken

Wahlfreiheit – das große Versprechen

Wahlfreiheit ist das Zauberwort der schwarz-gelben Regierung. Jede und jeder soll selbst entscheiden, in welcher Form er oder sie Beruf und Familie vereinbaren will. Große, jedoch sehr voraussetzungsvolle Worte. Die Freiheit der Entscheidung braucht – so das grüne Verständnis – nichts weniger als Optionen, die keiner und keinem zum Nachteil geraten – bei der Berufsplanung, beim Kinderwunsch, bei der Pflege, bei der Rente, bei den Steuern. Von der Sicherung der eigenen Existenz unabhängig vom gewählten Lebensmodell – das Leitbild der Grünen -– sind die Konzepte von schwarz-gelb (und Deutschland) jedoch noch weit entfernt. Es fehlt an allen Ecken und Enden, an Infrastruktur für Kinder und Pflegebedürftige, an gleichen Löhnen für gleichwertige Arbeit und an einer geschlechtergerechten Steuerpolitik.

In der Bundesrepublik lebt heute zwar die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten. Sie stößt jedoch an gläserne Decken, kommt weniger beruflich voran als Männer. Das betrifft nicht nur ihre Aufstiegschancen, das betrifft auch den Lohn: Vergleicht man mittlere Einkommen, beträgt der Unterschied zwischen Männer- und Frauengehältern 22 Prozent. Mit dieser Zahl liegt Deutschland auf dem drittletzten Platz aller OECD-Länder. Ein großer Teil dieser Differenz ist auf Teilzeitarbeit zurückzuführen. In Deutschland arbeiten 62 Prozent der Frauen zwischen 25 und 54 Jahren in Teilzeit, zum Vergleich: In Frankreich sind es nur 26 Prozent. Überrepräsentiert sind Frauen hingegen in schlecht bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen. Von den 6,94 Millionen Menschen, die im Jahr 2011 einen Minijob in Deutschland angenommen haben, stellen Frauen mehr als zwei Drittel. Die Folgen: Im Laufe ihrer Erwerbsbiografie erwirtschaften Frauen heute nur eine halb so hohe Rente wie Männer, viele Frauen sind deshalb von Altersarmut bedroht. Mit diesem Unterschied in den Rentenbezügen landet Deutschland auf dem letzten Platz aller 34 Länder, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem letzten Gleichstellungsbericht verglichen hat. Wer also weibliche Altersarmut verhindern will, muss unter anderem beim Arbeitsmarkt ansetzen und umsteuern. Wahlfreiheit gereicht Frauen unter diesen Bedingungen oftmals zum Nachteil.

Eigenständige Existenzsicherung setzt genau hier an. Es ist ein etwas sperriger Begriff, hinter dem aber ein sehr konkretes und lebensnahes Konzept steht. Es fordert im Kern nichts Geringeres, als dass alle Menschen ihren Lebensweg planen und realisieren können, ohne dabei in finanzielle Abhängigkeit oder gar Not zu geraten. Sei es als Mutter, als berufstätige Frau, als Hausmann oder als Pflegender für Angehörige. Es geht um die Freiheit der Wahl. Und sie ist keine selbstverständliche Realität in Deutschland. Dies gilt für alle Geschlechter und Schichten. Sicher aber sind es in erster Linie Frauen, die ihren Beruf aufgeben, um sich um Familie, Kinder und später vielleicht die hilfsbedürftigen Angehörigen zu kümmern. Spätestens, wenn die Ehe scheitert – in Deutschland jede zweite – bekommen sie zu spüren, was es sie kostet, die Eigenständigkeit aufgegeben zu haben: In ihrem Beruf warten, wenn überhaupt, Jobs der zweiten oder dritten Liga, die Unterstützung, die das Gesetz nach der Ehe vorsieht, ist marginal, und die Rente wird zum Leben kaum reichen; von verpassten Lebenschancen ganz zu schweigen.

Eigenständige Existenzsicherung ist eine politische Leitidee all jener, die Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern durchbuchstabieren, gesetzliche Rahmenbedingungen durchforsten und falsche Anreize wie Ehegattensplitting & Co Schritt für Schritt abschaffen wollen. Wenn der Ausschluss homosexueller Lebenspartnerschaften aus dem Ehegattensplitting wie jüngst vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wird, dann ist das aus der Perspektive der Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung konsequent. Das Ehegattensplitting selbst festigt jedoch eher tradierte Rollenmuster, die dafür verantwortlich sind, dass die Familien- und Sorgearbeit nicht gleich auf alle Geschlechter verteilt ist und so den Lebensweg vieler Frauen bestimmt, aber auch den der Männer. Die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Ramona Pisal, bringt das Anliegen eigenständiger Existenzsicherung gerade auch in der Steuerpolitik anlässlich des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Ehegattensplitting für homosexuelle Paare auf den Punkt: «Angemessen ist die Einführung einer Individualbesteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag für alle rechtlich verbindlich verfassten Lebensformen.»

Wahlfreiheit der Lebensformen, real und für jede und jeden – für dieses Ziel müssen politische und gesetzliche Weichen gestellt und die gesellschaftliche Auseinandersetzung geführt werden.

Dem Leitbild der Eigenständigen Existenzsicherung zum Durchbruch verhelfen erfordert Mut. Mit Gegenwind ist zu rechnen. Das Ehegattensplitting genießt immer noch hohe Akzeptanz unter der Bevölkerung. Die Auswirkungen vieler arbeitsmarktpolitischer und steuerlicher Fehlanreize auf die eigenständige Existenzsicherung von Frauen und Männern und deren volkswirtschaftliche Kosten sind vielen Menschen in Deutschland nicht bewusst. Doch es lohnt sich aufzuklären und neue politische Initiativen zu ergreifen – gesellschaftlich, politisch und ökonomisch.

Eigenständige Existenzsicherung bedeutet, dass alle Menschen einen Rechtsanspruch auf soziale Absicherung und grundsätzliche individuelle Leistungen haben – unabhängig von Geschlecht und partnerschaftlicher Bindung. Dieses Leitbild ist an Selbstbestimmung und an echter Wahlfreiheit orientiert. Wer echte Wahlfreiheit will, muss die politischen und gesetzlichen Weichen dafür stellen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung dazu führen. Ohne Entrümpelung und Reformen im Arbeits-, Sozial und Steuerrecht sind diese nicht zu haben.

 

Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Neben der internationalen Arbeit der Stiftung ist sie verantwortlich für das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie. Eines ihrer zentralen Anliegen ist die konsequente Umsetzung des Leitbilds Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung.

Mehr zum Thema Eigenständige Existenzsicherung in:

Böll.Thema. Wie frei bin ich? Lebensentwürfe in Bewegung" mit Beiträgen u.a. von Barbara Unmüßig & Susanne Diehr, Uta Meier-Gräwe, Heide Oestreich, Astrid Rothe-Beinlich, Götz Aly, Julia Friedrichs, Chris Köver, Ulrike Baureithel.

 

4 Kommentare

  1. Herzlichen Glückwunsch zu diesem wunderbaren Beitrag! Er ist in allgemein verständlichem Deutsch geschrieben. Und er sollte tägliche Pflichtlektüre für alle Hartz-IV- Verbrecherinnen und -Verbrecher innerhalb und außerhalb unserer Partei sein, bis sie endlich wahrnehmen, welches menschliche Unheil sie angerichtet haben, und immer noch anrichten, solange es Hartz IV gibt – statt einer Eigenständigen Existenzsicherung, oder statt eines Begingungslosen Grundeinkommens, wie Andere dasselbe nennen.

  2. Pingback: Wie frei bin ich? Schwerpunkt: Lebensentwürfe in Bewegung - Böll.Thema 2/2013 - Gender is Happening

  3. Der Begriff der Wahlfreiheit (als Gesensatz zu vermeintlichen linken "Steuerung") verschleiert, dass die bloße Existenz von Familienpolitik ist und ideologisch die Rolle von Frau/Mann, Familie und Kind in bestimmte Richtungen zu drängen versucht.

  4. Irgendwie war das klar, dass die ganze Freiheitsdebatte auf sowas rausläuft. Mut braucht's dafür keinen – aber vielleicht ein bisschen Kohle, für eine nette Anzeigenkampagne.

     

    Ruft doch mal beim BDI an, wenn die den Artikel lesen, geben die Euch gern was.

     

    Liebe Grüsse

    Gerd