Als im Oktober vor Lampedusa hunderte Flüchtlinge ums Leben kamen, war er plötzlich allgegenwärtig: der Ruf nach einer grundlegenden Reform der europäischen Grenz- und Flüchtlingspolitik. Geschehen aber ist nichts. Etwaige Reförmchen wolle man frühestens im Juni 2014 diskutieren, so Kanzlerin Merkel nach einem Gipfeltreffen in Brüssel.
In der Zwischenzeit wird fleißig an der Festung Europa weitergebaut. Erst kürzlich präsentierte die griechische EU-Ratspräsidentschaft ihr Arbeitsprogramm im Plenum des Europäischen Parlaments ‒ und die Vorschläge im Bereich Migration und Flucht sind enttäuschend. Zwar weist Athen darauf hin, dass bei der Aufnahme von Flüchtlingen in der Europäischen Union mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten geübt werden müsse. Alles andere klingt aber nach der üblichen Maxime: Abschottung, Abschottung, Abschottung.
Umso wichtiger, dass wir Grüne in unserem EU-Wahlprogramm klare Kante zeigen und glaubwürdige Reformkonzepte aufweisen. Die Schreibgruppe hat hier einen guten Job gemacht, nicht zuletzt dank der engagierten Zuarbeit aus verschiedensten Bundesarbeitsgemeinschaften.
Über die Grundzüge einer grünen Grenz- und Flüchtlingspolitik besteht Einigkeit. Wir machen uns stark für einen menschenrechtskonformen Umgang mit Schutzbedürftigen, für die Einhaltung des Refoulement-Verbots und für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren. Wir stemmen uns gegen Dublin III, gegen die Militarisierung der EU-Außengrenzen, gegen unkontrollierte Datensammlung und gegen die beharrliche Weigerung der Mitgliedstaaten, legale Einwanderung möglich zu machen.
Einige wenige Änderungsanträge aber könnten auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Dresden für Gesprächsbedarf sorgen. Vor allem denke ich da an Frontex und die altbekannte Frage: abschaffen oder reformieren?
Zwischen Idealvorstellung und Pragmatismus
Wir haben es im Europäischen Parlament geschafft, der EU-Grenzschutzagentur eine neue Verordnung zu verpassen. Die Einsetzung einer Menschenrechtsbeauftragten und eines Konsultativforums sind erste Reformschritte, die ohne uns Grüne nicht gegangen worden wären. Inwieweit allerdings die Empfehlungen des Konsultativforums und der Menschenrechtsbeauftragten von Frontex und den nationalen Grenzbehörden umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. In jedem Falle ist es unwahrscheinlich, dass die erkämpften Reformen aus menschenrechtlicher Sicht ausreichen werden.
Wir Grüne werfen deshalb die Frage auf, ob Frontex abgewickelt gehört – so auch in einigen Änderungsanträgen. Auch ich bin der Meinung, dass die Agentur durch eine Behörde ersetzt werden sollte, die den Grenzverkehr menschenrechtskonform regelt, statt die Grenzschützer der EU-Mitgliedstaaten bei der Abschottung zu unterstützen. Die EU-Außengrenzen dürfen nicht weiter von einer auf Abwehr ausgerichteten Organisation gehandhabt werden.
Änderungsanträge weisen außerdem – und völlig zurecht! – darauf hin, dass der wachsende Trend zu einer engen Zusammenarbeit und Rückübernahmeabkommen mit menschenrechts- und asylpolitisch fragwürdigen Drittstaaten ein immer größeres Problem darstellt. Durch die koordinierende Aufgabe, die Frontex in diesem außenpolitischen Bereich übernimmt, erscheint der Ruf nach Alternativen nur noch dringlicher. Auch hier lohnt sich übrigens ein Blick in das jüngst vorgestellte Arbeitsprogramm der griechischen EU-Ratspräsidentschaft: Explizit kündigt Athen darin an, vermehrt auf Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten setzen zu wollen. Für die Betroffenen können sich derartige Verträge als fatal erweisen. Länder wie die Türkei, mit der erst im Dezember ein Rückübernahmeabkommen geschlossen wurde, können eine menschenrechtskonforme Behandlung von Flüchtlingen nicht gewährleisten. Die Europäischen Union schickt, unter aktiver Teilnahme von Frontex, Schutzbedürftige damit wissentlich in Drittstaaten, in denen sie im besten Falle allein gelassen, im schlimmsten Falle misshandelt werden. Häufig kommt es zudem zu Kettenabschiebungen in andere Länder, womöglich gar in den ursprünglichen Verfolgerstaat, wo Diskriminierung oder Folter drohen.
Allerdings sollten wir beim Thema Frontex angesichts der derzeitigen politischen Mehrheiten in Europa realistisch bleiben. So legitim die Forderung nach einem radikalen Umdenken im EU-Grenzschutz ist, so wenig Hoffnung besteht auf Umsetzung. Es wird deshalb auch weiterhin entscheidend sein, dass wir pragmatisch für menschenrechtliche Fortschritte im derzeitigen institutionellen Rahmen kämpfen – ohne dabei das große Ganze aus dem Auge zu verlieren.
Die Formulierung im EU-Wahlprogramm wird deshalb davon abhängen, ob wir eine – jedenfalls mittelfristig – unrealistische Vision zeichnen oder ob wir uns den vorherrschenden Beharrungskräften ein Stück weit anpassen wollen. Persönlich könnte ich mit einem Kompromiss leben: Im Wahlprogramm den Schritt weiter gehen, in meiner alltäglichen Politik auch in Zukunft praxisbezogen handeln. Die BDK wird zeigen, wohin die Reise geht.
Humanitäre Flüchtlingsvisa plus X
Die im Wahlprogramm geäußerte Forderung nach humanitären Flüchtlingsvisa verdient Unterstützung. Mit ihnen soll verhindert werden, dass sich Schutzbedürftige auf lebensgefährlichem Wege nach Europa begeben müssen. Das Prinzip klingt schlüssig: Ein Flüchtling stellt in seiner Heimat oder in einem Transitland einen Antrag bei der EU-Delegation oder der Botschaft eines EU-Mitgliedstaats. Wird diesem Antrag stattgegeben, erhält er ein Visum und kann – statt in seeuntauglichen und überfüllten Flüchtlingsbooten – auf legalem Wege in die Europäische Union einreisen, um dort um Asyl zu bitten.
Das „dort“ ist mir in dem Zusammenhang besonders wichtig: Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass die Vergabe humanitärer Flüchtlingsvisa zu einer Auslagerung der EU-Asylpolitik in Drittstaaten führt. Die Delegationen und Botschaften dürfen sich einzig und allein mit der Frage einer legalen Einreise befassen. Asyl muss weiterhin auf europäischem Boden beantragt, geprüft und entschieden werden. Die gefundene Formulierung im EU-Wahlprogramm trägt dem Rechnung, Änderungsanträge liegen keine vor.
Dennoch möchte ich eines anmerken. Sicherlich werden humanitäre Visa in einigen Fällen eine schnellere Ausreise und somit den Zugang zu Schutz ermöglichen. Ein Allheilmittel sind sie aber nicht. Die Erteilung eines Visums setzt in der Regel den Kontakt mit einer Botschaft voraus, die meistens im bestgesicherten Teil der Hauptstadt eines Landes liegt. Eine politisch verfolgte Menschenrechtsaktivistin wird sich wohl kaum in dieses Gebiet trauen, wenn sie nicht den Sicherheitskräften in die Arme laufen will. Auch führen viele Fluchtrouten nicht unbedingt über die Hauptstädte. Schließlich stellt sich die Frage, wer auf Grund welcher Kriterien über die Erteilung eines humanitären Visums entscheiden soll und welche Einspruchsmöglichkeiten gegen eine Ablehnungsentscheidung zu schaffen sind.
Es wäre deshalb falsch, sich auf dieser Forderung auszuruhen. Die Frage legaler Einreise nach Europa müssen wir, gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Forschung und Zivilgesellschaft, in den nächsten Monaten und Jahren weiterdenken. Angesichts der engagierten Arbeit innerhalb unserer Partei mache ich mir da aber wenig Sorgen.
Signalwirkung aus Dresden
Gerade die fragwürdige Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Abschottung und Zurückweisung von Schutzbedürftigen macht deutlich, dass wir uns sowohl innen- als auch außenpolitisch energisch für eine humanitäre Flüchtlingspolitik einsetzen müssen. Es kann nicht sein, dass Menschen von europäischen Grenzschützern indirekt oder gar direkt in den Tod getrieben werden. Und es kann nicht sein, dass die EU ihre Nachbarn mit politischem oder ökonomischem Druck dazu zwingt, sich zum Handlanger dieser untragbaren Abwehrhaltung zu machen.
Eines allerdings ist sicher: Egal, wie das Wahlprogramm in den einzelnen genannten Punkten ausfallen wird – wir Grüne werden unser flüchtlings- und asylpolitisches Profil zu bestätigen und stärken wissen.
In Zeiten, da in der Öffentlichkeit und Politik hunderte ertrunkene Schutzbedürftige binnen weniger Wochen in Vergessenheit zu geraten drohen, ist eine solche Signalwirkung wichtiger denn je.