Grün.Links.Denken

Nur ein Bauchgefühl

von Max Löffler

 

Ließen sich Probleme dadurch lösen, dass man sie häufig genug anspricht – die politische Linke hätte einen Nobelpreis verdient. Kein Parteitag und keine Demonstration vergeht, ohne dass sich dutzende Redner über die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen beklagen. Geht es aber um konkrete Lösungsansätze, dann gibt es bisher nicht viel mehr als ein bisschen Kosmetik.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit weisen die Spitzen der drei linken Parteien darauf hin, dass die Bundestagswahl 2013 auch eine Richtungswahl in Sachen sozialer Gerechtigkeit sein wird. Gegen die Neoliberalen von Schwarz-Gelb und für einen sozial gerechten Politikwechsel. Nach einem Wahlsieg geht es also direkt in Richtung Sonne und Freiheit: Der Spitzensteuersatz steigt, der Mindestlohn kommt, die Bürgerversicherung ebenso. Es fließt mehr Geld in Bildung, Reiche müssen mehr Steuern zahlen und die ALG II-Regelsätze steigen, zumindest ein bisschen.

Und nicht nur SPD, Linkspartei und Grüne jammern über die gewachsene und weiter wachsende Schere zwischen Arm und Reich. Selbst die Union und gestandene Konservative stimmen immer häufiger in den Chor ein. An Trauerrednern für die „Klassenrepublik Deutschland“2 fehlt es also kaum. Im Jahr 2007 verfügte das reichste Zehntel der Gesellschaft über mehr als 61 Prozent des Nettovermögens, während die untere Hälfte der Gesellschaft nichts besaß. Im Vergleich zum Jahr 2002 hat die Ungleichheit damit stark zugenommen.3 Jeder gute Linke kann diese Zahlen im Schlaf runterbeten. Die Einkommensverteilung ist zwar etwas ausgewogener, aber auch dort zeigt sich seit vielen Jahren ein ganz klarer Trend zu steigender Ungleichheit.4

Die bisher von Grünen, SPD und Linkspartei vorgeschlagenen Projekte würden sicherlich dazu beitragen, das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu verlangsamen. Aber wie viel bewirken die einzelnen Maßnahmen wirklich? Können sie dazu beitragen, die Schere auch wieder zu schließen? Oder braucht es dafür radikalere Antworten?

Maß der Dinge: Der Gini-Koeffizient

Das Bauchgefühl sagt einem jeden Linken, dass die genannten Maßnahmen die richtige Antwort sind, um die Ungleichheit zu verringern. Es gibt jedoch eine ganze Reihe geeigneter Kennzahlen, um diese Fragen auch zuverlässig zu beantworten. Oftmals helfen sie mehr als das reine Bauchgefühl. Etwa der „Gini-Koeffizient“, der null beträgt, wenn alle Personen über das exakt gleiche Einkommen (oder, je nach Betrachtungsweise, Vermögen) verfügen, und den Wert eins annimmt, wenn eine einzelne Person alles besitzt und alle anderen gar nichts. Allein in den fünf Jahren zwischen 2002 und 2007 ist der Gini-Index der Vermögensverteilung um knapp drei Prozent auf 0,799 gestiegen. Damit liegt Deutschland immer näher an den USA und deutlich entfernt von vergleichbaren OECD-Ländern wie Kanada, Finnland und sogar Großbritannien. Der Blick auf die Einkommensverteilung ergibt ein ähnliches Bild: Während Deutschland über Jahrzehnte hinweg durch eine gleichmäßige Verteilung geprägt war, befinden wir uns inzwischen nur noch im Schnitt der OECD-Staaten (Gini-Index 0,3) und damit weit entfernt von den skandinavischen Ländern (Gini von 0,25), auf deren Niveau wir noch vor wenigen Jahren lagen.

Gute Bildungspolitik ist nicht genug

Gerade in grünen Kreisen wurden und werden immer wieder Versuche unternommen, sich vom klassischen Verteilungsdiskurs zu lösen und stattdessen Bildung zur zentralen sozialen Frage zu definieren. Aber so wichtig eine Reform des Bildungssystems wäre, auch sie würde frühestens in einigen Generationen zu Verbesserungen führen. Bis dahin verschleiert es den Blick auf real vorhandene Verteilungskämpfe. Eine gute Schulpolitik wird weder alle Ungerechtigkeiten in Luft auflösen, noch die Verteilungsfrage überflüssig machen. Anders gesagt: „Kinder reicher Eltern werden immer Startvorteile haben.“5 Alan Krueger, der Vorsitzende des ökonomischen Beraterstabs von US-Präsident Obama, hat das Anfang des Jahres in einer bemerkenswerten Rede vor dem Center for American Progress auf den Punkt gebracht: Je höher die Einkommensungleichheit, desto geringer die Mobilität zwischen den sozialen Schichten und desto geringer die Chance auf sozialen Aufstieg. Der Zugang zu Bildung ist zwar wichtig, resultiert aber letztlich aus einer gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen.6

Im Detail: Was bringt wie viel?

Was die anderen konkreten Vorschläge angeht, so hätten sie eher kosmetische Wirkungen.

Beispiel Mindestlohn: Statisch gedacht führt ein Mindestlohn bei Arbeitnehmern mit geringen Löhnen zu einer Steigerung des Einkommens, die Ungleichheit sinkt. Soweit das Bauchgefühl. Am unteren Ende der Einkommensskala wird ein Mindestlohn aber gar keinen Effekt haben, weil nur vom Mindestlohn profitieren kann, wer einen Job hat. Zudem sind unter den Beschäftigten mit niedrigem Stundenlohn etliche Hinzuverdiener, deren Partner bereits über ein relevantes Einkommen verfügen. Weil sich die Einkommensverteilung aber auf das Haushaltseinkommen bezieht, sind auch bis weit in die Mittelschicht Mindestlohn-Profiteure zu finden. Selbst für Geringverdienerhaushalte ist nicht gesagt, dass das Nettoeinkommen nach Berücksichtigung von Steuern, Abgaben und Transfers noch relevant höher ausfällt als vorher. Unterm Strich würde der Gini-Koeffizient durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde bestenfalls um kaum spürbare 0,4 Prozent (oder 0,0012 Gini-Punkte) sinken, wahrscheinlich sogar noch weniger.7 Die Bedeutung von Löhnen und Beschäftigung insgesamt für die Primärverteilung der Einkommen kann kaum überschätzt werden. Der Mindestlohn selbst ist jedoch nicht mehr als ein kleiner Baustein.

Beispiel Reichensteuer: In kurzem Abstand beschlossen SPD und Bündnisgrüne Ende letzten Jahres auf ihren Bundesparteitagen jeweils die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent. Während die SPD nur zu versteuernde Einkommen über 100.000 Euro jährlich stärker belasten will, plädieren die Grünen für die Einführung einer neuen Tarifzone am Beginn des heutigen Spitzensteuersatzes, der in Zukunft erst ab 80.000 gelten würde. Die Linkspartei will zwar den Spitzensteuersatz bereits für Einkommen ab 65.000 Euro auf 53 Prozent anheben, dafür aber untere und mittlere Einkommen so stark entlasten, dass der Staat – anders als bei SPD und Grünen – im Endeffekt weniger und nicht mehr Geld einnehmen würde.8

So richtig auch hier der Ansatz ist: Der Vorschlag der Linkspartei ist schwer vereinbar mit dem Konsolidierungsdruck durch die Schuldenbremse. Grüne und besonders die SPD blinken zwar, biegen dann aber nicht ab. Die Anhebung des Spitzensteuersatzes ab 100.000 Euro beträfe nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung, der Gini-Koeffizient würde um kosmetische 0,6 Prozent sinken. Beim grünen Vorschlag sieht es wenig anders aus.9

Beispiel Bürgerversicherung: Auf sie trifft eine ähnliche Diagnose zu. Die Krankenversicherung hätte eine deutlich breitere Finanzierungsbasis, wenn einerseits auch Beamte und Selbstständige Mitglied sein müssten und andererseits nicht nur das Arbeitseinkommen, sondern auch Kapital- und Mieteinnahmen bei der Berechnung des Beitrags berücksichtigt würden. Außerdem könnten sich Gutverdiener nicht länger dem Solidarprinzip entziehen und in die private Krankenversicherung wechseln. Durch die Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze bliebe jedoch die zentrale verteilungspolitische Stellschraube weitgehend unangetastet. Ab dieser Grenze steigen die Versicherungsbeiträge nicht mehr proportional mit dem Einkommen an, sondern bleiben konstant. Egal, ob man 3.825 Euro, zehn- oder hunderttausend Euro verdient – der Krankenversicherungsbeitrag beträgt immer 314 Euro.

Für die anderen Sozialversicherungen gelten ganz ähnliche Regelungen. Während die Beiträge nach oben gedeckelt sind, zahlt man bereits bei einem monatlichen Einkommen von 800 Euro mit gut 20 Prozent den vollen Beitragssatz. Die Finanzierung der Sozialversicherungen ist in höchstem Maße regressiv. Gerade im unteren Einkommensbereich, wo auch Erwerbsanreize eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, werden so durch die Sozialabgaben hohe Hürden aufgebaut. Im Klartext: Selbst eine Bürgerversicherung würde die Ungleichheit kaum ändern.

Das gute Bauchgefühl mag die drei vorgeschlagenen Reformen zwar für verteilungspolitisch wirksame Maßnahmen halten. Aber um das gesellschaftliche Auseinanderdriften nicht nur zu verlangsamen, sondern es sogar umzukehren, werden sie in Wirklichkeit kaum ausreichen.

Erwerbsanreize richtig setzen

Doch es gäbe deutlich wirkungsvollere Lösungen. Parallel zur Steuerreform 2000 nahm in der Wirtschaftswissenschaft ein Forschungszweig neu an Fahrt auf, der sich damit beschäftigt, „optimale“ Steuersätze zu bestimmen. Ab einer gewissen Höhe führen Steuererhöhungen nicht mehr zu Mehreinnahmen, sondern kosten sogar Geld, weil die negativen Erwerbsanreize Überhand nehmen. Menschen wollen also weniger arbeiten, weil ihnen die zusätzliche Freizeit lieber ist als das größtenteils wegbesteuerte Einkommen. Dieser Zusammenhang ist auch als „Laffer-Kurve“ bekannt – vor allem die FDP verweist darauf gerne und oft. Es gilt jedoch auch das Gegenteil: Denn bis zu diesem Punkt können die Steuern ohne Probleme steigen. Der optimale Steuersatz wäre gerade dann erreicht, wenn die negativen Erwerbsanreize die Mehreinnahmen ausgleichen und jede weitere Steuererhöhung sinnlos würde. Dieser Punkt ist aber mit den gültigen deutschen Einkommensteuersätzen noch längst nicht erreicht. Entsprechende Berechnungen für Deutschland legen schon für Einkommen von gut 50.000 Euro einen Steuersatz deutlich über 50 Prozent nahe. Der optimale Spitzensteuersatz wäre bei Einkommen um eine halbe Million Euro fällig und läge bei gut 65 Prozent.10

Etliche empirische Studien haben gezeigt, dass die Erwerbsanreize für Geringverdiener eine viel bedeutendere Rolle spielen als für Spitzenverdiener. Denkt man diesen Ansatz konsequent zu Ende, dann folgt daraus auch, dass kleine und mittlere Einkommen im Gegenzug stärker entlastet werden müssten. Während die durchschnittliche Belastung mit Steuern und Abgaben heute schon bei kleinen Einkommen ansetzt und dann sehr schnell ansteigt, bleibt sie jenseits der 60.000 Euro fast konstant. Schuld daran ist zu großem Teil die Ausgestaltung der Sozialversicherungen. Nicht nur, dass die Finanzierung sich regressiv gestaltet – durch die immer weiter gehende steuerliche Abzugsfähigkeit der Sozialabgaben wird zudem die Finanzbasis der Einkommensteuer untergraben. In der Folge frisst die regressive Wirkung der Sozialversicherungen einen gehörigen Teil der Progression in der Einkommensteuer wieder auf. Sowohl die OECD als auch die EU-Kommission bemängeln dieses krasse Missverhältnis regelmäßig.11

Sozialsysteme über Steuern finanzieren

Konsequent wäre es deshalb, alle vier Sozialversicherungszweige von der Beitragsfinanzierung zu lösen und auf eine Steuerfinanzierung umzustellen. Die heutigen Sozialbeiträge entfielen, die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer könnte massiv vereinfacht und ausgeweitet werden, und die Versicherungsleistungen würden direkt aus dem Steueraufkommen finanziert. Anders als oft behauptet, müssten weder Effizienz noch Qualität der Versicherungen darunter leiden. Das bewährte Wettbewerbssystem der Krankenkassen etwa sollte beibehalten werden. Im Fall der Rentenversicherung könnte dieser Schritt zudem genutzt werden, um eine demographisch nachhaltige Kombination von Garantie- und Höchstrente einzuführen. Mittlere Einkommen könnten so spürbar entlastet, geringe Einkommen unter 10.000 Euro sogar ganz von Steuern und Abgaben befreit werden. Möglicher Verteilungseffekt: Ausgesprochen positiv, der Gini-Index ließe sich ohne Weiteres um fünf bis zehn Prozent auf Werte um 0,28 senken.

Fazit

Diese Forderungen sind nicht neu, im Gegenteil. Aber es sind die gleichen linken Parteien, die sich einerseits über wachsende Einkommensungleichheit beklagen und andererseits über die Höhe eines Mindestlohns und der ALG II-Regelsätze zerstreiten, statt sich den wirklichen Problemen zu stellen. Vergleicht man die Wirkung von Mindestlohn, Reichensteuer und Bürgerversicherung mit dem Effekt, den steuerfinanzierte Sozialversicherungen und anreiz-kompatible Steuersätze haben könnten, dann wird klar, wo verteilungspolitisch die Musik spielt. Wenn es der politischen Linken mit der Verteilungsfrage ernst ist, dann muss sie diese Baustellen in Angriff nehmen.

Max Löffler, 24, ist Mitglied im Bundesparteirat von Bündnis 90/Die Grünen. Von 2008 bis 2010 war er Bundessprecher der Grünen Jugend.

1 Entwicklungshilfe statt Hartz IV, in: „Der Spiegel“, 23/2012.
2 Holger Schmale, Klassenrepublik Deutschland, in: „Berliner Zeitung“ (BZ), 28.01.2012.
3 Joachim R. Frick und Markus M. Grabka, Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, in: „Wochenbericht des DIW Berlin“ 4/2009, S. 54-67.
4 Karl Brenke und Markus M. Grabka, Schwache Lohnentwicklung im letzten Jahrzehnt, in: „Wochenbericht des DIW Berlin“ 45/2011, S. 3-15.
5 Ulrich Schulte, Elektroflitzer für Arme, in: „die tageszeitung“ (taz), 26.07.2011.
6 Alan Krueger, The Rise and Consequences of Inequality in the United States, http://americanprogress.org/events/2012/01/pdf/krueger.pdf, 12.01.2012.
7 Viktor Steiner, Mindestlöhne, Lohnsubventionen und Einkommenssicherung im Wohlfahrtsstaat. Verteilungswirkungen von Reformalternativen für Deutschland, in: „Diskussionsbeiträge Freie Universität Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft“ 32/2010.
8 Stefan Bach und Peter Haan, Spitzensteuersatz: Wieder Spielraum nach oben, in: „Wochenbericht des DIW Berlin“ 46/2011, S. 3-9.
9 Ulrich Schulte, Ideen, die niemandem wehtun, in: „taz“, 27.11.2011.
10 Stefan Bach, Giacomo Corneo und Viktor Steiner, Optimal Top Marginal Tax Rates under Income Splitting for Couples, in: „CEPR Discussion Paper Series“ No. 8435, 2011.
11 European Commission, Council Recommendation on Germany’s 2012 national reform programme and delivering a Council opinion on Germany’s stability programme for 2012-2016, Brüssel, 30.05.201
2.

Ein Kommentar

  1. Ein toller Text. Endlich wird einmal begründet, warum wir eigentlich für einen Spitzensteuersatz von einer bestimmten Höhe eintreten sollten. Die Forderung die Sozialsysteme mit Steuern zu finanzieren kann man nur unterstützen. Wir kommen mittelfristig in massive Refinanzierungsproblem in diesem Bereich, die aktuell noch durch die gute Konjunktur(und damit: Hohe Beitragszahlungen) überdeckt werden.

    Gerade in dem entsolidarisierten System, das wir aktuell haben wir es dann zu massiven Schieflagen kommen, die dann wieder von den Ärmsten der Armen finanziert werden dürfen.

    Einen Antrag, der die hier aufgeführten Punkte aufgreift würde ich auf jeden Fall unterstützen.

    Viele Grüße
    Johannes Rehborn