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Europäische Friedensordnung?

Ein Meinungsbeitrag von Robert Zion

Die historischen Linien in Mittelosteuropa sind lang, verschlungen und sie sind beinahe überall dort noch sehr bewusst und so gut wie nirgends wirklich vergessen. Ist uns beispielsweise eigentlich bewusst, dass der Moskauer Kreml auch einmal von Polen besetzt wurde, dass dieses auch in Weissrussland und der Ukraine Einflusszonenpolitik betrieben hat?

Die Europäische Union, deren Friedensordnung ursprünglich auf einen Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Frankreich zurückzuführen ist, ist entstanden in dem Bewusstsein, diese historischen Linien in Westeuropa auf einen Weg des friedlichen Interessenausgleichs führen zu müssen.

Und es ist falsch, diese Friedensordnung nun als Argument gegen Russland in Anschlag zu bringen. Vielmehr muss Berlin mit Warschau und Moskau genau solch einen Prozess anstreben, der seinerzeit bereits mit Bonn und Paris initiiert wurde. Stattdessen aber empfängt die CDU-Kanzlerin den französischen Premier Valls in einer Art und Weise, die ökonomisch basierte neudeutsche Hegemonie hervorkehrend, die von mir und vielen anderen nur noch als als demütigend empfunden wurde. In Frankreich ist es mit Sicherheit so empfunden worden.

Stattdessen nutzen die USA die historisch begründeten Ängste in Polen, im Baltikum und in weiteren Ländern Mittelosteuropas aus, um genau solch einen Aussöhnungsprozess zu verhindern. In den USA kann und wird man nicht verstehen, dass das eigene Land von der Geißel des Krieges bis auf die Grundmauern und in die Seelen der Menschen hinein verwüstet werden kann, eine Geißel, die stets ihre je eigene nationalistische Fahne zur Rechtfertigung in der Hand hält. Die USA haben diese Götterdämmerung ihres Nationalismus und ihres Bellizismus noch nicht erlebt. Augenblicklich stellt sich die Frage, ob es nicht schon zu spät dafür sein könnte, Russland über Deutschland als tragende östliche Säule einer transatlantischen Partnerschaft einzubinden. Im Interesse Europas darf es aber dafür nie zu spät sein.

„Stimmen gewichtiger US-Politiker lassen erahnen, ein Zusammenprall zwischen EU und Russland, der beide Seiten schwächt, könne durch aus im Interesse von US-Strategien liegen. Die EU würde sich dann stärker unter die Obhut der USA begeben müssen. Die betont provozierende Haltung der USA könnte einer solchen Orientierung entsprechen“ (1).

Der vor allem konservativ geprägte Elitenkonsens in Deutschland, von Gauck über die Kanzlerin, vielen Leitmedien bis hinein in das konservative Lager unserer eigenen Partei, handelt europavergessen, wenn er die oft proklamierte "Verantwortung Deutschlands in der Welt" zu einer Ersatzstrategie für Militäreinsätze weltweit macht, weil er mit der Machtstellung Deutschlands in Europa nicht im Sinne unseres gemeinsamen europäischen Hauses umzugehen vermag.

Die Blockkonfrontation hat den deutschen Konservativismus in seinem Hegemoniedrang wohl nur diszipliniert, der jetzt wieder ein gutes Stück militaristischer und reaktionärer daher zu kommen scheint.

Es war jüngst Hans-Dietrich Genscher, der daher auch darauf hingewiesen hat: "Mit dem Ende es Kalten Krieges muss die Teilung Europas beendet sein… Es gab aber auch andere, jedenfalls wird das jetzt offensichtlich, die darin nicht das Ende der Teilung Europas sahen, sondern die Verschiebung der Teilungsgrenze aus der Mitte Europas an die Russische Westgrenze. Und hier liegt ein Problem. … Ich glaube, dass man nicht ausreichend versucht hat, sich in die Schuhe der anderen Seite zu stellen, den Machtverlust Russlands einzuschätzen und in dieser Weise konstruktiv auf das Land zuzugehen, es ernst zu nehmen. Und das ist nach meinem Gefühl nicht in ausreichender Weise gelungen. … Es ändert nichts an der Tatsache, dass es Stabilität in Europa ohne Russland nicht geben wird und erstrecht nicht gegen Russland" (2).

Was wir brauchen ist die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, eine weit nüchternere Betrachtung der nach wie vor an Anschlag gebrachten politischen, ökonomischen und geostrategischen Einflüsse der jeweiligen militärisch-industriellen Komplexe. Dass es Russland auf der Krim und im Donbas genau darum geht, hat dieses dem Westen spätestens seit dem Georgien-Konflikt 2008 sehr deutlich gemacht. Aber diese Machtkomplexe „funktionieren“ immer nur spiegelbildlich, auch im Hinblick auf die NATO und die USA. Weiterhin ist für Russland die Frage der Ukraine eine, die den europäischen oder asiatischen Charakter Russlands entscheiden könnte. Die Demografie und der Modernisierungskonflikt der muslimischen Welt sind für Russland Fragen allerersten Ranges in dieser Hinsicht – übrigens genauso wie für Europa. An diesen Fragen wird sich die Zukunft Russlands und damit implizit auch die Zukunft der europäischen Friedensordnung zu einem großen Teil mit entscheiden.

Es ist darum zu wenig, wenn wir auf das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine pochen, ohne die historischen Linien dabei verantwortungsvoll mit in den Blick zu nehmen, zu wenig für die Ukraine, zu wenig für Russland und zu wenig für Europa. Denn nur der Nationalismus glaubt sich in einem solch selbstbezogenen Raum des je Eigenen bewegen zu können, damit sich immer auch seine Feinde neu erschaffend. Und darum hat es auch der Westen versäumt, in der Ukraine von vorne herein klare Trennungslinien zwischen Selbstbestimmung und Nationalismus zu ziehen. Darum gilt bezüglich der oftmals noch zarten Pflanze der Zivilgesellschaft nach wie vor die Mahnung Heinrich Bölls: "Wir geben uns zu wenig Rechenschaft darüber, wie viel Enttäuschung wir anderen bereiten".

Warum eigentlich können die EU und Russland, die doch – in unterschiedlichen Ausprägungen – föderative Gebilde sind, dies nicht auch zum Modell für die Ukraine machen? Warum eigentlich kann ein Russland, das als Kontinentalstaat und größter Staat der Erde historisch gleich mehre Brückenfunktionen ausgeprägt hat – die zwischen Europa und Asien, zwischen Ethnien, Kulturen und Religionen – nicht auch der Ukraine eine solche Funktion zugestehen? Das Gleiche gilt für die Europäischen Union.

Wir sind längst an dem Punkt angelangt, in dem wir uns eingestehen müssen, dass es ein beiderseitiger Fehler gewesen ist, die Ukraine auf eine Seite ziehen zu wollen, dass die unterschiedlichen Kräfte in der Ukraine oft als nicht vielmehr als die Statthalter der eigenen Interessen betrachtet wurden. Einem Land wohlgemerkt, das den Hitler- und Stalin-Terror über sich ergehen lassen musste, wo Menschen im vergangen Jahrhundert wahrscheinlich leiden mussten, wie in kaum einem anderen Land Europas. Einem Land also, dem Deutsche wie Russen unendlich viel schuldig sind.

Letzten Endes ist die Europäische Friedensordnung eine Frage europäischer Souveränität im Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte von Lissabon bis zum Ural. Es ist die Frage nach der Einhegung des Nationalismus und die Fähigkeit zum Brückenbauen.

Die Kanzlerin und eine strategisch an deren Seite ausgeschaltete Sozialdemokratie lassen eine solche klare politische Linie vermissen. Der nächste Gorbatschow, der wieder einmal den Mut zum Brückenbauen aufbringen wird müssen, wird wohl nur noch aus Westeuropa kommen können. Die Kanzlerin, die nun vor den Trümmern ihrer rein ökonomisch geprägten europäischen Hegemonialpolitik steht, ist es jedenfalls nicht.

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(1) Kooperation für den Frieden: Dossier VII. Der Ukraine-Konflikt. Kooperation statt Konfrontation. Vorgelegt von Andreas Buro und Karl Grobe mit Zuarbeit von Clemens Ronnefeldt, 14.08.2014.

(2) Hans-Dietrich Genscher: Zeugen des Jahrhunderts, ZDF, 28.09.2014

 

3 Kommentare

  1. Die Russische Föderation ist nur noch dem Namen nach föderalistisch. Außerdem blendest Du aus, dass nicht nur Polen in Weißsrussland und der Ukraine Einflusszonenpolitik betrieben hat (was allerdings spätestens Anhanf des 18. Jahrhunderts (!) aufgehört hat), sondern dass Moskowien/Russland seit seiner Gründung bis heute dort Einflusszonenpolitik betreibt. 

    Auch die Sichtweise, "wir" hätten die Ukraine auf unsere Seite "ziehen" wollen, kann ich nicht teilen. Wenn die große Mehrheit der Bevölkerung das will, kann man nicht von "ziehen" reden.

  2. Hat er nicht ausgeblendet.

    "Ist uns beispielsweise eigentlich bewusst, dass der Moskauer Kreml auch einmal von Polen besetzt wurde, dass dieses auch in Weissrussland und der Ukraine Einflusszonenpolitik betrieben hat? "

    Das erlebe ich in letzter Zeit immer öfter. Man darf über die Interessenspolitik der USA reden, jener der EU, der IS, Syriens, der Türkei – aber man sollte tunlichst immer wieder dabei auch die Sünden der Russischen Föderation erwähnen, sonst tut es ein Anderer. So als daran ein Mangel bestehen würde. Und egal ob das nun in den Kontext gehört oder nicht.

    Interessanterweise geschieht das eher selten im umgekehrten Fall, und ich finde das charakterisiert ganz gut den derzeitigen Zustand der Debatte. Nicht umsonst wird diese Stimmung im Ausland als antirussisch registriert (und nicht nur dort, auch im Programmbeirat der ARD).

    Der Verfasser hat das erkannt und formuliert:

    "Was wir brauchen ist die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, eine weit nüchternere Betrachtung der nach wie vor an Anschlag gebrachten politischen, ökonomischen und geostrategischen Einflüsse der jeweiligen militärisch-industriellen Komplexe. "

    Dem kann man nur zustimmen.

    Die Sichtweise mit "unserer" Seite kann ich allerdings auch nicht ganz teilen, weil diese Seite für kein "Uns" steht, von dem Ich Teil bin.

    Ich denke übrigens, das sagen auch viele Ostukrainer über die vermeintliche, von Peter erwähnte "große Mehrheit".

  3. Lieber Peter,

    Diese Denken in Kategorien von "Nationengeburt" ist ein typisches Merkmal vor allem des 19then Jahrhunderts. Das hätten wir doch spätestens wiedererkennen können, seit wir die Folgen der Anerkennungspolitik auf dem Balkan erfahren mussten.

    Und eines der Hauptmerkmale ist eben, die historsichen Linien willkürlich da beginnen zu lassen, wo es der "nationalen Wiederweckung" passt und sich die Geschichte entsprechend mythisch zurechtzulegen.

    Wer aber beisieplsweise den Kiver Rus' ausblendet, der blendet die Kirchengrenze aus (röm.-kath./griech.-orth.), was wiederrum die Folge der Etablierung der Sprache(n) hatte (Kirchenslavisch), was wiederum dazü führte, dass beispielsweise Rennaissance, Humanismus und Aufklärung nicht in Russland Fuß gefasst hat (da die Wiedrentdeckung der Antike im der Renaissance über nicht-religiöse lateinische Texte vonstatten ging). 

    Und nicht nur Polen, auch die Litauer waren lange eine (röm.-kath.) Regionalmacht mit denen – zuzüglich der tartarischen Khanate im Osten und Südosten – Kiev/Moskau lange um die territoriale Herausbildung des Reiches gerungen hat.

    Die relative "Geschichtslosigkeit" der Sowjetzeit war es doch, die jetzt dazu führt, dass in Kiev und Moskau eben plötzlich wieder Nationenbildungsmythen auftauchen, für die aber immer jeweils andere einen hohen Preis zahlen müssen: Bürgerkrieg, Vertreibung.

    Seit wann eigentlich reden Grüne in den verheerenden Kategorien des 19then-Jahrhunderts, wie leider auch Ralf Fücks, derart affirmativ von der "Nation"? Treu an der Seite der Amerikaner, die ja ihren eigenen "Birth of a Nation"-Mythos mit ihrer Geopolitik überall hinein projezieren. Müssten wir Deutschen nicht genug davon wissen, was diese alleinige Fokussierung auf den "Willen des Volkes" anrichten kann?

    Und die offen da liegende Einflusszonen- und Geopolitik der Amerikaner derart auzublenden, zeugt vielleicht noch von der Europäischen Planlosigkeit und Handlungsschwäche, im Sinne der Ukraine kann es auf jedenfall nicht sein.

    Genscher hat es schon richtig beschrieben.

    Gruß

    Robert