Grün.Links.Denken

Kindergrundsicherung: Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit

 

Als im Frühjahr 2009 auf dem grünen Wahlprogramm-Parteitag in Berlin und auch in der grünen Bundestagsfraktion über die Kindergrundsicherung diskutiert wurde, da gehörte ich zu den klaren Befürwortern. Statt sich in technokratischen Verästelungen zu verfangen, gab es mit der Kindergrundsicherung eine umfassende Gesamtidee zur Reformierung des Familienleistungsausgleichs. Endlich mal, dachte ich.

Knapp vier Jahre später liegt für den Parteitag in Hannover erneut ein Antrag zur Kindergrundsicherung auf dem Tisch. Im Vergleich zu 2009 hat sich nicht viel geändert. Die Grundidee ist dieselbe, zur Gegenfinanzierung wird das Abschmelzen des Ehegattensplittings herangezogen. Trotzdem halte ich den Antrag inzwischen für falsch: So richtig die Idee der Kindergrundsicherung weiterhin ist, der geforderte Einstieg sollte zumindest vorläufig kein finanziell prioritäres grünes Projekt sein. Die eh schon knappen Ressourcen sollten wir dort einsetzen, wo es wirklich Not tut.

Weshalb die Kindergrundsicherung keine Priorität hat

Der beantragte Einstieg in die Kindergrundsicherung ist aus mehreren Gründen nicht sinnvoll. Zum einen setzt er am falschen Ende an: Würde man, wie im Antrag vorgeschlagen, die Kindergrundsicherung faktisch durch eine Ausweitung des Kindergelds umsetzen, dann profitierten davon nicht etwa die ärmsten Kinder, nicht etwa die, die am meisten auf Sozialtransfers und gute, kostenlose öffentliche Institutionen angewiesen sind. Im Gegenteil: Es profitiert die untere Hälfte der Mittelschicht. Der Grund dafür ist, dass selbst der allerniedrigste Regelsatz im SGB II derzeit 219 Euro beträgt und damit 35 Euro über dem Kindergeld liegt. Jeder zusätzliche Euro Kindergeld würde erst mal mit dem Regelsatz verrechnet. Das bedeutet, dass die Kindergrundsicherung mindestens 219 Euro betragen müsste, bis bei den wirklich armen Familien auch nur ein Euro ankommt. Allerdings würden sich schon die Kosten für diese 219 Euro im Vergleich zum Status quo auf rund vier Mrd. Euro belaufen. Vier Milliarden, von denen ausgerechnet Haushalte im ALG II-Bezug keinen Cent sehen würden.

Selbst wenn die Kindergrundsicherung, wie im Antrag gefordert, volle 300 Euro betragen und damit über den aktuellen Regelsätzen für Kinder und Jugendliche liegen würde (Kostenpunkt mindestens 12-15 Mrd. Euro), wäre noch nicht klar, dass arme Familien wirklich besser gestellt werden. Denn wer nur wegen Kindern im Haushalt unter das sozio-kulturelle Existenzminimum rutscht, hat heute unter bestimmten Umständen Anspruch auf den so genannten Kinderzuschlag. Je nach Anzahl der Kinder können Haushalte mit Kindergeld und Kinderzuschlag so zwischen 324 und 355 Euro pro Kind bekommen, effektiv also locker zwanzig Euro mehr als mit der geforderten Kindergrundsicherung. Den Kinderzuschlag (die wahrscheinlich komplizierteste und am Seltensten in Anspruch genommene Sozialleistung überhaupt) wollen die AntragstellerInnen aber nicht etwa reformieren und vereinfachen, sondern schlicht abschaffen.

Problem Ehegattensplitting

Zum anderen wird die Abschaffung des Ehegattensplittings kaum von heute auf morgen erfolgen. Zwar werden Ehen derzeit mit rund 20 Mrd. Euro jährlich subventioniert, kurzfristig lässt sich davon jedoch höchstens ein niedriger einstelliger Milliardenbetrag abschmelzen, da es bei einer solch tiefgreifenden Reform mindestens ein paar Jahre als Übergangszeit geben muss. Umso geringer aber die Mehreinnahmen aus der Begrenzung des Splittingvorteils, desto zielgenauer sollte doch die Mittelverwendung dort ansetzen, wo wirklich Bedarf ist.

Überhaupt ist es bemerkenswert, dass sich der Antrag, den auch vier Mitglieder des Fraktionsvorstandes (!) unterschrieben haben, völlig vom in der Bundestagsfraktion begonnenen Prozess der finanziellen Prioritätensetzung verabschiedet. Selbstverständlich lassen sich die Vorschläge der sagenumwobenen „Projektgruppe Prioritäten“ im Einzelnen diskutieren, unterm Strich aber ist es richtig, zu sagen, woher das Geld kommen und wohin es gehen soll. Die AntragstellerInnen bauen nun einen großen Schutzwall um den selbstdefinierten Haushaltsposten Familienleistungsausgleich und rufen laut „Mir gäbet nix“.

Abschmelzen des Ehegattensplittings? Ist eine Familienleistung und muss weiter zur Unterstützung von Familien ausgegeben werden. Aufstockung der ALG II-Regelsätze für Kinder und Jugendliche? Ist Sozialpolitik und kann nicht aus den freiwerdenden Mitteln finanziert werden, sorry. Dabei ist das Ehegattensplitting nichts weiter als eine steuerliche Begünstigung einkommensstarker Ehepaare auf dem Rücken aller weniger Verdienenden und Nicht-Verheirateten. Mehreinnahmen durch das Abschmelzen oder Abschaffen sind also ebenso wenig zweckgebunden wie wenn an anderer Stelle Subventionen abgebaut werden.

Auch wenn man argumentiert, dass die Einführung einer Kindergrundsicherung zumindest teilweise die Zusatzbelastungen durch die Abschaffung des Ehegattensplittings kompensieren soll, geht die Rechnung nicht auf. Während die Abschmelzung zuerst die Reichsten trifft, begünstigt die Anhebung des Kindergelds wie beschrieben in erster Linie die untere Hälfte der Mittelschicht. Kompensationseffekte würden erst sehr spät auftreten.

Alternativen zur Kindergrundsicherung

Statt uns auf das Prinzip Kindergrundsicherung zu versteifen, sollten wir Grüne überlegen, wo wirklich Bedarf ist. Drei Punkte drängen sich dabei besonders auf:

  • Die Neuberechnung und Anpassung der Regelsätze für Kinder, Jugendliche und Erwachsene im SGB II und SGB XII auf ein tatsächlich sozio-kulturelles Existenzminimum, Stichwort 420 Euro. Anders als von Bundestagsfraktion und Bundesvorstand vorgeschlagen, sollten wir davon nicht abrücken und auch nicht nur „perspektivisch“ dorthin kommen. (Es gibt einen entsprechenden Änderungsantrag zur BDK.)
  • Gerade für Geringverdiener-Familien im ALG II-Bezug, so genannte Aufstocker-Haushalte, sollten wir zudem die bürokratischen Hürden aus dem Weg räumen. Statt diese Familien mit der stigmatisierenden Beantragung der Grundsicherung zu schikanieren, sollte das Steuer- und Transfersystem unkomplizierte Unterstützung bieten, die an bestehende Systeme andockt. Im Zukunftsforum Auseinanderfallende Gesellschaft wurde dafür der Vorschlag einer Basissicherung etwa in Form eines Tax Credits durch das Finanzamt gemacht. So ließe sich unsere bisherige Beschlusslage sinnvoll weiterentwickeln und auch praktisch umsetzen.
  • Ähnliches gilt für den Kinderzuschlag. Was als Idee gut gemeint ist – mit vorgelagerten Sicherungssystemen Familien unterstützen, die nur in den ALG II-Bezug rutschen, weil sie Kinder haben – verkehrt sich in der Praxis in ein bürokratisches Monstrum. Statt das ganze Instrument deshalb abzuschaffen, sollten wir den Kinderzuschlag in einen automatischen Kindergeldzuschlag für GeringverdienerInnen umwandeln.

Prioritäten setzen

Ja, es ist wichtig, Ziele und Visionen zu definieren. Und ja, es ist auch wichtig, Schritte und Zwischenstufen zu konkretisieren. Bezogen auf die Kindergrundsicherung ist das Ziel klar, das Prinzip so einfach wie richtig: Jedes Kind sollte dem Staat gleich viel wert sein. Geht es aber um die nächsten Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel, dann sollten wir nicht den letzten vor dem ersten tun. Der im Antrag skizzierte Vorschlag aber kostet bereits vier Milliarden, bevor er Haushalten im ALG II-Bezug auch nur einen Euro bringt. Wichtiger als die Kindergrundsicherung ist deshalb die Anhebung der Regelsätze, die Vereinfachung des Kinderzuschlags und die unbürokratische Unterstützung von GeringverdienerInnen. Hier müssen wir Grüne Prioritäten setzen.

 

Max Löffler, 24, ist Mitglied im Bundesparteirat von Bündnis 90/Die Grünen. Von 2008 bis 2010 war er Bundessprecher der Grünen Jugend.

siehe auch Beitrag von Katja Keul, Andrea Asch & Thomas Poreski